Text aus der Anthologie zum 16.open mike. Der open mike gilt als der wichtigste deutschsprachige Nachwuchs-Literaturwettbewerb.
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15 Minuten
Es gräbt sich Blütenstaub unter die Nägel
und leuchtet noch unter Tage
»In the future everyone will be famous for 15 minutes.« Andy
Warhol, Ruhm, 15 Minuten, 1968 und heute 40 Jahre später
zeichnen wir unser ganzes Leben auf. Stellen es ins Netz. Keine
Webcam auf Standby. Li[]e is li[]e. Aber wie geschrieben? v-v, v-f,
f-v, f-f? Rückgängig: Eingabe. Wiederherstellen! Das Leben in
kleine Clips geteilt mit allen anderen. Hochladen. Das ganze Leben
auf Video. Du brauchst ein zweites, um dir dabei zuzuschauen.
Video lateinisch für: Ich sehe. Ich sehe was, was du
nicht. Und das ist mein Leben. Ich lebe, ich lebe nicht, ich lebe,
ich lebe nicht, ich reiße keine Bäume, ich reiße Blütenblätter aus.
Und meine Hoffnung stirbt / die Ersten werden die / im Prinzip
noch Hoffnung. Ich lebe, ich lebe nicht, ich lebe, ich lebe nicht,
ich lebe, habe ein Bloch im Kopf. So lange ich die Blätter ausreiße,
weiß ich nicht, ob ich tot oder lebend bin. Es gibt kein zurück.
Wenn ich falsch angefangen habe, dann bin ich jetzt schon
tot. Rückgängig – Rückgängig – Rückgängig. Anders anfangen.
Die Videokamera nimmt auf. My area is supervised by video.
Eine Überwachungskamera in der Küche, eine im Gang, auf der
Toilette, im Arbeitszimmer, unterm Bett, im Kühlschrank, in der
Abstellkammer und der Türspion: eine Linse. Die Monitorwand
zeigt alles. Auf Monitor Nr. 7 kocht Milch über. Rauch steigt
auf. Es riecht nicht. Es muss höllisch stinken. Milch zu Kohle.
Trinke den Kaffee schwarz. Auch ohne Zucker. Bin ich ein Affe?
Gib ihm! So lange ist das nicht her. Charles Darwin: Survival in
15 minutes. I will survive. Was dann? As long as I know how,
Know-how to love, I will survive. Und dann? Ich lebe, ich lebe
nicht, ich lebe, ich lebe nicht. Es ist fast so, als ob Momo mir eine
Stundenblume in die Hand gedrückt hätte. Als ob. Und was mache
ich? Zähle, zupfe, drehe, rauche Zeit, vergeude, verlebe, verschone,
verliebe, verstöre, ver. Und im Fernsehen Wiederholungen
von gestern. Am Morgen danach ist immer alles anders. Denke
ich. Und weil ich das schon einmal gedacht habe, vielleicht vor drei, vier Jahren. Déjà-vu. Kleiner Clip. Vier Sterne. Zweimal gesehen.
Und wieder sind es die Augen. Deine Augen, meine Augen.
Wir sehen Licht am Ende des Tunnels, weil wir optisch sind. Ich
lebe. Noch kein Ende in Sicht. Kein Licht im Gotthard-Basistunnel,
der einmal 57 Kilometer lang sein wird. Länger als von hier
nach Marathon und Tag für Tag fressen sich die Bohrer 20 Meter
weiter. Ein Albdruck liegt. Im Transitraum krümmt sich meine
Zeit. Weiß nicht wohin. Weiß nicht woher. Hin und her. Wie ein
Pendel. Erzähl die Blütenblätter. Gerade. Ungerade. Eine Gerade,
zwei Punkte verbindet. A und B. Wo anfangen? Wie? Liebt? Liebt
nicht? Herz aus Holz. Dreimal pochen. Drei Punkte … blind. Aus
den Augen: der Sinn. Abhanden. Zwei Punkte .. Eine Gerade. A
und B. 57 Kilometer: ein Tunnel. Ich lebe, denke ich und broadcast
yourself. Alle reden von Zwei-Punkt-Null. Niemand von
Beta-Visionen. Keiner von der Karaoke-Version des Lebens. Alles
läuft vom Band, nur noch ein bisschen schief dazu singen. Ein
Hit. Payback Playback. Keine 15 Minuten. Nur 3 Minuten 27 Sekunden.
Durchschnittlicher Popsong. Second life style. Alles ist
im Fluss. Aber in welchem? Amazonas, Brigach, Colorado River,
Donau, Elbe, Fulda, Ganges, Hilmend, Irtysch, Jordan, Krishna,
Loire, Magdalena, Nil, Ob, Paraná, Queis, Rhein, Styx, Tauber,
Ural, Vaupes, Wupper, Xingú, Yukon, Zuari. Ungerade zwischen
zwei Punkten. Quelle und Mündung. Ein Strom. Gegen den. Mit
ihm. In ihm. In ihm untergehen. Sich taufen lassen. Dir leb ich,
dir sterb ich, dein bin ich im Leben und Tode. Ich lebe, ich lebe
nicht, ich lebe, ich lebe nicht richtig. Kein Richtig im Falsch. Alles
ist im. »Ein kleinerer Fluss, wie etwa die nur 112 Kilometer
lange Wupper, hätte mich nicht interessiert«, sagt der Mann mit
den dunklen Schatten unter den Augen. Und er muss es ja wissen,
hat den ganzen Rhein fotografiert von der Quelle zur Mündung.
Das Panoramabild ist vier Kilometer lang. Jede Minute ein Foto.
Steige zweimal, dreimal in denselben Fluss. Bin Nichtschwimmer,
muss ertrinken. Will baden gehen. Baden gehen mit Sigmund.
Kreidebleiche Felsen vor Dover. Trockne mich ab. Ziehe
einen Pullover über. Meine Hand Dover, die Schulter Calais. Gerade
dazwischen: mein Ärmelkanal. Winkel den Ellenbogen an.
Ungerade. Schwindel. Sterne. Schwarz vor Augen. Deine Augen.
Meine Augen. Weiß nicht mehr, wo oben, wo unten. Wusste noch
nie. Fragile. Bitte nicht werfen! Wer hält sich schon daran? Sind geworfen. Ob klein, ob groß: ein Wurf. Sieben kleine Katzenleben
in meinem. Und immer graue Katze in Schrödingers Blackbox.
Maunze leise: ich lebe, ich lebe nicht, ich lebe, lebe ich nicht?
Tue so, als ob. Tue so, als ob Kunst! Überlebensgroß. Weißes
Rauschen im White Cube. Weißes Rechteck auf schwarzem
Grund. Tief unten Dunkelheit. Das ewige Licht, hier ist es gebrochen.
Keine Spektralfarben, kein Gold am Ende des Regenbogens.
Nur Dunkel. Alles ist Nichtbild. Puppe in der Puppe in der
Puppe: Kokon. Und der Regen prasselt an die Windschutzscheibe.
Die Wischer schwirren wie irr. Sitze in meiner Autobiografie und
der Motor stottert. Drei-Wege-Kat. Schnitt. »Diese Einstellung
müssen wir nochmal drehen. Du musst dich ganz in die Rolle
fallen lassen. Also, du hast gerade im Radio gehört, dass der
Fährbetrieb noch heute Nacht eingestellt wird. Es gießt in Strömen
und der Fluss ist fast schon uferlos. Aber eine Fähre fährt
noch. Die letzte. Die musst du kriegen. Um jeden Preis. Also, du
rast mit dem Auto Richtung Anlegestelle, doch dann fängt der
Motor an zu stottern, geht aus. Schnitt. Die Fähre legt ab. Du
musst es schaffen, es ist deine letzte Chance. Schnitt. Du springst
raus aus dem Auto, den Aktenkoffer in der Hand. Rennst los.
Schnitt. Zwischen Land und Schiff ein Meter Fluss. Langsam
wird es mehr. Zwei Meter. Schnitt. Du rennst. Schnitt. Drei Meter.
Schnitt. Es ist noch ein Satz / aus dem Zusammenhang reißend:
4.05 Die Wirklichkeit wird mit dem Satz verglichen / und
du hast es geschafft. Bist auf der Fähre gelandet. Mit einem Satz.
Das schaffst du! Oder brauchst du ein Double?« Schnitt. Mein
Einsatz: »Den Fährmann gut bezahlt, in Dollar und Yen, Tod
und das Leben kann man nicht trennen.« Dann halte ich kurz
inne, mein Blick verliert sich am Horizont und ich spreche gegen
den Wind: »Ich erinnere mich vage, Worte an Godot, stelle in
Frage, spinne Gold zu Stroh.« »Gut, genau so will ich das haben.
« Es ist die Quadratur. Neben »black circle, 1913« schreibe
ich »Gotthard-Basistunnel, 2008« und verlasse das Museum
durch das Hauptportal. Fühle dich wie ein Linkshänder, den
Spatz in der Rechten und über den Dächern dieser Stadt. Land.
Fluss. Tier. Name. Beruf. Leipzig. Lesotho. Loire. Leopard. Ludwig.
Laiendarsteller, der Flüchtigkeit markiert. Blaue Flecken huschen
über die Haut aus Pergament. Und nur drei Tanzschritte
vom Abgrund entfernt. Schneewalzer, Tango, Salsa. Auch mir befehlen höhere Wesen: rechte obere Ecke schwarz malen! Ich
widersage. Beuge die Knie, erhebe mich, beuge die Knie. Tausche
Handkolorit gegen Schwarz-Weiß. Ein schlechter Tausch. Wir
träumen bunt, sagst du. Und selbst kleines Kino ist in Farbe.
Gelber Mais wird zu weißem Popcorn auf der Leinwand. Weißer
Rauch steigt auf. Ein neuer Papst ist gewählt. Und dann das letzte
Abendmahl: von da Vinci, von Warhol, von Jesus. Das Turiner
Grabtuch auch Leinwand und wenn der Hahn dreimal kräht auf
dem Mist: verraten und verkauft. Schließe meine Augen, deine
Augen und spüre den Blitz durch die Lider. Es sind die Verpasst-
Bilder aus dem Nichtbild-Automaten, die sich einbrennen und als
Brandmal, als Narbe auf unserer Haut, auf unserer Netzhaut zurückbleiben.
Noch einmal mit dem black ticket davonkommen.
Deine Augen sind meine Augen. Für einen Blick lang habe ich das
wirklich geglaubt und dich und mich für unfehlbar gehalten. Diesen
einen Blick mit einem Klick: Speichern unter: unbenannt. Endung:
unbekannt. Und dann fragst du mich, wie das Leben denn
gehen soll ohne Suchmaschine. Und für 15 Minuten bleibt die
Welt einfach stehen. Die weißen Blütenblätter liegen vor mir und
ich habe richtig angefangen, denke ich und schreibe dir jetzt einen
Brief. Von Hand. Von Hand in den Mund. Von Spatz in der
Hand. Vom Vollmund und Neumund und vom ganz kleinen
Kino: nur für dich und für mich. Mais geht auf wie der große
Heliumballon und an einer Schnur mein Brief. Bitte freimachen.
Frankierter Rückumschlag liegt bei. Und in der Morgendämmerung
steigt der Ballon von orange nach gelb. Und heute sind Tag
und Nacht gleich. Völlig aus dem Zusammenhang: 6.4 Alle Sätze
sind gleichwertig. Und das Bild, das Sie sich von mir machen. Es
steht Kopf. Auf der Netzhaut. Netzhaut häutet sich, heute. Was
war gestern? Von gestern aus betrachtet, ist heute, morgen. »Was
war gestern?«, fragte Käpt’n Memo in die dunkle Nacht. Als
Antwort blieb ihm nur das Rascheln der Bäume und die Schatten
seiner Träume. Er steht im Dunkel, dort im Schatten seiner
Träume und lauscht. Er hört die Bäume, die er gepflanzt hat: einen
Apfelbaum, einen Kirschbaum, einen Quittenbaum, eine
Kiefer, eine Nordmanntanne. Dort, wo die Pilze wachsen: Morchel
und Pfifferling. Und fliegen möchte Käpt’n Memo, fliegen.
Doch er hat all seine Träume unter den Teppich gekehrt. Er kann
nur noch liegen. Ein ganzes Leben inklusive der schönsten Tage. Ein ganzes Leben inklusive. Und dann ist Frühlingsbeginn. Wie
jedes Jahr am 20. März. Er erinnert sich an das Jahr zuvor und
an das Jah zuvor und an das Ja zuvor. Er erinnert sich an kein
Nein. Nach einigen Jahren den Zustand der Gummischläuche
vom Fachmann überprüfen lassen. Käpt’n Memo schaltet die
Waschmaschine an. 40° C Buntwäsche. Jedesmal hofft er, dass er
ohne Schleudertrauma davonkommt. Und auch heute bleibt er
verschont. Aber was ist mit morgen? Morgen steht Kopf! Und für
15 Minuten setzt die Waschmaschine aus. Und dann wird alles
blütenrein sein. Und nur der Blütenstaub unter den Nägeln
brennt.
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Je ne regrette rien ne vas plus.
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Wo fängt der Zitatbestand an? Wo hört er auf? Es bleibt offen. Hier
einige Anleihen, Textfäden, Zitate in der Reihenfolge ihres Erscheinens.
Diese Liste muss unvollständig bleiben: Warhol/ Opus/ Betriebssystem/
Bloch/ Gaynor/ Ende/ Kaufhof/ Heraklit/ katholische Liturgie/ Adorno/
Kaluza nach Piepgras/ Post/ Schrödinger/ Malewitsch/ Wittgenstein/
Beckett/ Polke/ Bauernregel/ Verne/ Betriebsanleitung/ … |